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Weißmeer-Ostsee-Kanal
Der Weißmeer-Ostsee-Kanal (russisch: Беломорско-Балтийский канал, Belomorsko-Baltijski kanal; bis 1961 Беломорско-Балтийский канал имени Сталина, Belomorsko-Baltijski kanal imeni Stalina, "Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal"; auch kurz Belomorkanal oder Stalin-Kanal) ist eine 227 Kilometer lange, aus Flüssen, Seen und 37 Kilometer künstlichen Abschnitten kombinierte Wasserstraße[wp]. Sie führt von Belomorsk[wp] (Soroka) am Weißen Meer[wp] im Norden durch den Unterlauf des Wyg[wp], durch den für die Kanalzwecke zusätzlich aufgestauten See Wygosero[wp], über Kanalabschnitte zum Onegasee[wp] und nach Powenez[wp]. Die Wasserstraße ist Teil des Weißmeer-Ostsee-Wasserweges, der die Barentssee[wp] mit Sankt Petersburg[wp] verbindet.
Der Kanal hat im Abschnitt zwischen Onegasee und Weißem Meer 19 Schleusen.[1] Er war zunächst für Schiffe mit einem Gewicht von bis 3000 t befahrbar, seit Modernisierungsarbeiten in den 1970er Jahren für Schiffe mit einem solchen von bis 5200 t.[2] Der Wasserweg wird im Winter durch Eisbrecher offen gehalten[3] und wenn dies nicht möglich ist, wird er geschlossen.
Planung
Der Handelsweg vom Weißen Meer nach Mittelrussland war bereits den Kaufleuten des 16. Jahrhunderts bekannt. Sie nutzten vor allem die Seen und Flüsse der Region zur Beförderung ihrer Waren. Im Zuge der Besiedelung dieses nördlichen Teils des Russischen Reiches[wp] (die Regionen Murmansk[wp], Archangelsk[wp] etc.) wurden neue Verkehrswege benötigt, auf denen die Güter in das Zentrum Russlands transportiert werden konnten.
Da der Bau eines befestigten Landweges aufgrund der hohen Kosten immer wieder hinausgeschoben wurde, nutzten die Kaufleute die Region zwischen dem Weißen Meer[wp], dem Onega-[wp] und dem Ladogasee[wp], um ihre Waren über den Wasserweg nach Süden zu bringen. Seit dem 19. Jahrhundert gab es Projekte für den Bau eines Kanals, von denen eines von Wsewolod Timonow[wp] auf der Weltausstellung 1900[wp] in Paris mit einer Goldmedaille ausgezeichnet wurde. Jedoch wurde die Umsetzung des Projekts von der Regierung aus Kostengründen abgelehnt. Erst zu Beginn des Jahres 1917, kurz vor der Februarrevolution[wp], bewilligte das Verkehrsministerium den Bau des Kanals. Dieser Beschluss wurde durch die Oktoberrevolution[wp] und den darauf folgenden Bürgerkrieg[wp] bis 1922 hinfällig.
Während der von Stalin vorangetriebenen Industrialisierung der Sowjetunion[wp] wurden diese Planungen wieder in Betracht gezogen. Die Entscheidung für den Bau des Kanals wurde am 3. Juni 1930 vom Rat für Arbeit und Verteidigung[wp] gefasst. Am 1. Juli 1931 wurde die Projektskizze bewilligt, kurz danach begann die Projektarbeit am Ort der zukünftigen Baustelle. Geplant war ein 5,5 Meter tiefer Kanal, der kleineren Schiffen der sowjetischen Marine die Fahrt vom Weißen Meer nach St. Petersburg ermöglichen sollte.
Betrieb
Der Kanal wird heute durch den staatlichen Weißmeer-Onega-Schifffahrtsdienst instand gehalten, der 787 Mitarbeiter beschäftigt.[4]
Schleusen
Die 74 Flusskilometer und vier Meter Höhendifferenz von der Mündung der Newa[wp] in den Finnischen Meerbusen[wp] bis zu deren Abfluss aus dem Ladogasee können ohne Schleuse überwunden werden. Über den Swir[wp], einen der Hauptzuflüsse des Ladogasees, besteht eine Verbindung zum Onegasee. Dazwischen liegen zwei Staustufen an Wasserkraftwerken (Koordinaten K01 und K02); deren Schleusen bringen mit Hubhöhen von jeweils ungefähr 10 Metern die flussaufwärts fahrenden Schiffe schon beinahe auf das Niveau des Onegasees, dessen Pegel bei 33 Metern liegt. Die Schleusenbauwerke des künstlich geschaffenen Kanals beginnen dann mit der Schleuse № 1 bei der Gemeinde Powenez[wp] (Повенец).
Schleuse | Meereshöhe in Metern |
Koordinaten | Schleuse | Meereshöhe in Metern |
Koordinaten | Schleuse | Meereshöhe in Metern |
Koordinaten | |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
K 01[fn 1] | 17 | 60° 48' 17" N, 33° 42' 27" O |
№ 06 | 83 | 62° 54' 20" N, 34° 53'52" O |
№ 13 | 50 | 64° 15' 50" N, 34° 24' 18" O | |
K 02[fn 1] | 31 | 60° 55' 01″ N, 34° 11' 41" O |
№ 07 | 100 | 62° 54' 53" N, 34° 54' 22" O |
№ 14 | 38 | 64° 24' 48" N, 34° 29' 21" O | |
№ 01 | 37 | 62° 50' 14" N, 34° 50' 21" O |
№ 08 | 98 | 63° 05' 50″ N, 34° 58' 19" O |
№ 15 | 28 | 64° 25' 41" N, 34° 29' 54" O | |
№ 02 | 44 | 62° 50' 49" N, 34° 50' 27" O |
№ 09 | 91 | 63° 11' 29" N, 34° 53' 12" O |
№ 16 | 25 | 64° 28' 33" N, 34° 40' 04" O | |
№ 03 | 61 | 62° 51' 30" N, 34° 50' 37" O |
№ 10 | 81 | 63° 52' 452 N, 34° 18' 43" O |
№ 17 | 11 | 64° 28' 32" N, 34° 41' 33" O | |
№ 04 | 70 | 62° 52'00" N, 34° 50' 52" O |
№ 11 | 66 | 63° 57' 15" N, 34° 15' 20" O |
№ 18 | 3 | 64° 28' 48" N, 34° 44' 44" O | |
№ 05 | 74 | 62° 52' 29" N, 34° 51'15" O |
№ 12 | 58 | 64° 13' 39" N, 34° 20' 05" O |
№ 19 | 1 | 64° 30' 33" N, 34° 48' 30" O | |
Profil/ |
Bau
Der Kanal wurde vom 16. Oktober 1931 bis zum 30. August 1933 auf Anweisung Stalins[wp] im Zusammenhang mit dem ersten sowjetischen Fünfjahresplan[wp] unter der Leitung von Naftali Frenkel[wp] und Genrich Jagoda[wp] durch den großangelegten Einsatz zehntausender Häftlinge des Zwangsarbeitslagersystems[wp] der Geheimpolizei[wp] OGPU[wp] erbaut. 1983 wurde der Kanal mit dem Orden des Roten Banners der Arbeit[wp] ausgezeichnet.
Der Kanal wurde weitgehend ohne die Nutzung von Stahl und Beton als Baumaterial sowie Maschineneinsatz errichtet. Materialien wie Holz, Stein und Erde wurden nahezu ausschließlich von Zwangsarbeitern befördert und zum Bau verwendet. Ihre Bewachung, Versorgung und Unterbringung wurde durch das BelBaltLag (Беломорско-Балтийский ИТЛ, Belomorsko-Baltijski ITL "Weißmeer-Ostsee-Besserungs-Arbeitslager"), einem Teil des sowjetischen Gulag[wp]-Systems, organisiert. Die meisten der so genannten Kanalarmisten wurden als einfache Bauarbeiter eingesetzt, wohingegen für besondere Aufgaben zusätzlich Fachleute in Haft genommen wurden. Nach Fertigstellung des Projekts im August 1933 wurden 12.484 Häftlinge entlassen und weiteren 59.516 wurde eine Haftzeitverkürzung gewährt. Auf diese Weise kam es zur größten Massenentlassung, die von der Gulag-Verwaltung verantwortet wurde.[5]
Im Mai 1933 befuhren die ersten Schiffe den Weißmeer-Ostsee-Kanal, der schließlich am 30. August offiziell eröffnet wurde.
Während der Bauarbeiten starben zahlreiche Menschen. Nach nicht belegten Angaben von Alexander Solschenizyn[wp] sind von den circa 350.000 Bauarbeitern im Laufe der Bauzeit circa 250.000 ums Leben gekommen. Die Arbeiter bekamen täglich etwa 1.300 Kilokalorien an Nahrung[6], was nicht einmal zur Aufrechterhaltung der Energie für die Verrichtung von leichter körperlicher Arbeit ausreichte, weil bei der geforderten Schwerarbeit[wp] die dreifache Nahrungsmenge erforderlich gewesen wäre.
Nach Angaben Solschenizyns wurden die Bauvorhaben schlecht durchgeführt, weil die Arbeitsnormen für die Häftlinge praktisch unerfüllbar waren. Nahrungsmittelrationen der Häftlinge waren damals an die Erfüllung des Plansolls gekoppelt, so dass auch Arbeitsleistungen verbucht wurden, die in Wirklichkeit gar nicht erbracht worden waren. "So seicht ist er [der Kanal], dass nicht einmal die U-Boote durchkommen [...] Müssen auf Schleppkähne[wp] verladen und gezogen werden".[7]
Propaganda
In der sowjetischen Propaganda wurde der Bau bis in die Mitte der 1930er Jahre in den Rahmen einer Kampagne zur "Besserung" von Sträflingen und deren Umerziehung zu systemloyalen Sowjetbürgern gestellt. Ein Beispiel hierfür ist die Gemeinschaftspublikation Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal. Die Baugeschichte[wp] ("Беломорско-Балтийский канал имени Сталина. История строительства|Belomorsko-Baltijski kanal imeni Stalina. Istorija stroitelstwa"), die 1934 mit zahlreichen Illustrationen, darunter Karten und Fotos von Alexander Rodtschenko[wp], erschien und an die Teilnehmer des XVII. Parteitags[wp] verteilt wurde. Unter der Herausgeberschaft Maxim Gorkis[wp], Awerbachs[wp] und Firins[wp] verfassten Schriftsteller wie Alexei Nikolajewitsch Tolstoi[wp], Ilf[wp] und Petrow[wp], Schklowski[wp], Wsewolod Iwanow[wp] und Soschtschenko[wp] eine Eloge auf den Bau des Kanals.[8][9] 1935 erschien eine englischsprachige Ausgabe.[10] Nachdem die meisten NKWD[wp]-Mitarbeiter, die in dem Band gepriesen wurden, ihrerseits dem Großen Terror[wp] zum Opfer gefallen waren, wurde das Buch 1937 in der Sowjetunion[wp] verboten und aus dem Verkehr gezogen.[11] Das Werk enthielt vor allem zahlreiche Passagen, in denen der 1937 verhaftete und als "Volksfeind"[wp] hingerichtete Jagoda gewürdigt worden war.[12]
Nutzen
Der wirtschaftliche wie militärische Nutzen des Kanals erwies sich nach der Fertigstellung als unbedeutend.[13] Das Transportvolumen lag 1940 bei einer Million Tonnen bzw. 44 Prozent seiner Kapazität. Wegen seiner geringen Tiefe von 3,60 Metern ist er nur beschränkt schiffbar. Alexander Solschenizyn zählte an einem Tag 1966 zwei Kähne, jeweils mit Brennholz; Anne Applebaum zitiert eine Schleusenwärterin im August 1999 mit höchstens sieben Schiffen täglich, oft nur drei oder vier.[14] Heute passieren den Kanal 10 bis 40 Schiffe pro Tag. Trotzdem hat der Kanal eine gewisse Bedeutung für die Industrie der Halbinsel Kola[wp] und der Oblast Archangelsk[wp], da er deren Warenaustausch mit Zentralrussland vereinfacht. Außerdem hat er als Verbindung zwischen der Ostsee[wp] und dem Nordmeer[wp] einen gewissen strategischen Nutzen, da er die Verlegung von Teilen der Flotte[wp] ermöglicht.
1941 fiel der Kanal durch verschiedene deutsche Luftangriffe auf die Schleusentreppe[wp] von Powenez[wp] für die sowjetische Kriegsführung aus.[15]
Erzählende Literatur und Essays
In der kritischen Gulag-Literatur, angefangen bei Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag[wp], nimmt der Kanalbau einen breiten Raum ein.[9] Im Jahr 2018 hat sich der polnische Schriftsteller Marian Sworzeń[wp] in einem Essay mit der Verantwortung sowjetischer Literaten für die Sowjetpropaganda[wp] anlässlich der Eröffnung des Kanals 1933 befasst.
Literatur
- Cynthia Ann Ruder: Making history for Stalin: the story of the Canal. University Press of Florida, Gainesville 1998, ISBN 0-8130-1567-7.
- M. Morukov: The White Sea Canal, in Paul R. Gregory[wp], Valery Lazarev: The Economics of Forced Labor. The Soviet Gulag. Online Volume published by Hoover Institution Press at Stanford, 2003. S. 151-162: Dokument (PDF, 65 KB).
- Nick Baron: Soviet Karelia : politics, planning and terror in Stalin's Russia, 1920–1939. Routledge, 2007, ISBN 978-0-415-31216-5.
- Ekaterina Makhotina: Stolzes Gedenken und traumatisches Erinnern: Gedächtnisorte der Stalinzeit am Weißmeerkanal. Lang, 2013, ISBN 978-3-631-60006-1.
Einzelnachweise
- ↑ White Sea-Baltic Canal., in: Encyclopædia Britannica[wp], Micropædia, Band 12, 2002, S. 633.
- ↑ Weißmeer-Ostsee-Kanal, in: Meyers enzyklopädisches Lexikon[wp], Band 25, 1979, S. 185f.
- ↑ Weißmeer-Ostsee-Kanal, in: Brockhaus Enzyklopädie[wp], 21. Auflage, 2005, Band 29, S. 615.
- ↑ Федеральное государственное учреждение "Беломорско-Онежское государственное бассейновое управление водных путей и судоходства" (ФГУ "Беломорканал"): Общие сведения[archiviert am 23. April 2017], Internetportal der Republik Karelien[wp] (Russisch)
Konstantin Wassilewitsch Gnetnew (Константин Васильевич Гнетнев): Беломорский Канал, petrozavodsk-mo.ru (Russisch) - ↑ Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt, C.H. Beck, 2018, ISBN 978-3-406-71511-2
- ↑ Timothy Snyder[wp]: Bloodlands. 2. Aufl. 2014, S. 49.
- ↑ In: Der Archipel Gulag.
- ↑ Maxim Gorki, Leopold Awerbach, Semjon Firin (Hrsg.): Der Weissmeer-Ostsee-Kanal. Moskva, Intourist, um 1934, DNB 57828944X
- ↑ 9,0 9,1 Der Bau des Weißmeer-Kanals, Der Spiegel 45/1974, 3. November 1974 (Auszug aus Der Archipel Gulag)
- ↑ Maxim Gorky, Leopold Averbakh, Semen Georgievich Firin, tr. Amabel Williams-Ellis: The White Sea canal: being an account of the construction of the new canal between the White Sea and the Baltic Sea. John Lane, London 1935.
- ↑ Nina Frieß: "Inwiefern ist das heute interessant?" - Erinnerungen an den stalinistischen Gulag im 21. Jahrhundert. Frank & Timme, Berlin 2017, S. 46.
- ↑ "Perekovka". Tschekisten und Schriftsteller als "Ingenieure der menschlichen Seele", kommunismusgeschichte.de
- ↑ Mikhail Morukov: The White Sea-Baltic Canal[ext] (67 kB), in: Paul R. Gregory, Valery Lazarev (Hrsg.): The Economics of Forced Labor: The Soviet Gulag, 2003.
- ↑ Anne Applebaum: Der Gulag. 2003, S. 109.
- ↑ Jürg Meister: Der Seekrieg in den osteuropäischen Gewässern 1941-45. München 1958, S. 215.
Netzverweise
- Belomorkanal, International Institute of Social History[wp] (Englisch)
- "Entstehungsgeschichte des Weißmeerkanals beim niederländischen"
- Bilder des sowjetischen Fotographen Alexander Rodschenko[wp] (1891-1956) (russisch)
- Website der "ФБУ Беломорканал" (Bundesbehörde Belomorkanal) mit einer sehenswerten Bilderstrecke (russisch)
- Günter Kotte[wp]: Ich rauche gern - Belomorkanal: Was vom Stalin-Kanal blieb[ext] - SWR2-Sendung "Feature", 2020-02-09, auch als Audio (47,8 MB, 53:37 Minuten)