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Ius primae noctis
Mit ius primae noctis (lateinisch "Recht der ersten Nacht"; auf französisch "droit du seigneur"[ext]) wird das Recht eines Gerichtsherren bezeichnet, bei der Heirat von Personen, die seiner Herrschaft unterstehen, die erste Nacht mit der Braut zu verbringen bzw. sich zuerst mit dieser sexuell zu betätigen.
Das ius primae noctis war zu keiner Zeit sanktioniert, weder durch königliche Gewalt noch durch kirchliche Stände. Es ist eine Ausprägung der Leibeigenschaft mit ihrer starken Abhängigkeit der Bauern von ihrem Gutsherren und der dadurch vorhandenen Ermächtigung von Feudalabgaben, sodass auch persönliche Übergriffe hingenommen werden mussten oder die verlangte Ersatzzahlung vom abhängigen Bauern als gegenüber dem vermeintlichen Recht des Gutsherrn geringe Leistung unwidersprochen hinzunehmen war.
Seit der frühen Neuzeit wurde zunehmend Kritik an dieser Sitte in der Literatur der Aufklärung geäußert. Wie häufig dieser Brauch tatsächlich zum Einsatz kam, ist jedoch zum Teil höchst umstritten. Manche Historiker zweifeln an der Striktheit dieses Brauches und verweisen darauf, dass die juristisch-literarische Aufarbeitung teilweise eine Fiktion ist. Das ius primae noctis wurde offenbar besonders von den französischen Aufklärern zum Argument gegen den Adel instrumentalisiert.[1][2]
Feudallasten
Das Ius primae noctis wird oft als Verschärfung und Zuspitzung anderer Feudallasten angesehen und ist eng verbunden mit zahlreichen weiteren Unterdrückungen des Bauerntums, da Hochzeiten ohne Zustimmung der Grundherrscher strengstens verboten waren und sich eben diese Grundherrscher für die Genehmigung einer Ehe mit hohen Mitgiftabgaben bezahlen ließen.
Eine Legende der Aufklärung
Das "Recht der ersten Nacht" gilt seit jeher als grotesk pervertiertes Herrenrecht. Tatsächlich ist es eine Propagandalüge der Aufklärer, die dazu diente, Stimmung gegen den Adel und den Feudalismus zu machen.
Im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte wird Ius primae noctis angeführt als "Privileg des Grundherrn auf Beiwohnung in der Brautnacht einer Grundhörigen". Mit anderen Worten: eine Art Vergewaltigungsrecht eines Adeligen anlässlich von jedweder Hochzeit in seinem Land.
Historiker sind im Zweifel, ob dieses Herrenrecht auch tatsächlich ausgeübt wurde, ja ob es überhaupt jemals bestanden hatte. Umfangreiche Forschungen und Debatten, im 19. Jahrhundert sogar ein regelrechter Historikerstreit, widmeten sich dem Thema. Als wegweisendes Werk gilt bis heute Karl Schmidts[wp] "Jus primae noctis. Eine geschichtliche Untersuchung". Schmidt bezeichnet das "Jus" darin als eine Sage, die sich im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts gebildet habe. Der Literaturhistoriker W. D. Howarth sieht gar das Aufkommen der Sage und die Debatte darüber als Kunstprodukt derer, die sich den Kampf gegen Klerikalismus und Feudalismus auf die Fahne geschrieben hatten.[3]
Die Legende vom "Recht der ersten Nacht" ähnelt in frappierender Weise der feministischen Vergewaltigungslüge unserer Tage, wonach angeblich jede zweite Frau in ihrem Leben vergewaltigt wird.
Der neue Pamela-Feminismus
Im Jahr 1740 erschien in London ein Roman, der unser Denken über Sex und Macht verändern sollte. Der Puritaner[wp] Samuel Richardson[wp] schrieb einen sagenhaften Bestseller: Pamela oder die belohnte Tugend[wp]. Bereits zu seinen Lebzeiten wurde dieser Roman als neues Evangelium gefeiert.
Die bürgerliche Revolution
Das Bürgertum setzte seine Machtinteressen gegen den Adel bekanntlich im Mantel einer moralischen Revolution durch. Zu diesem Zweck wurde ein Feind erfunden: der adelige Verführer, der sich Rechte anmaßte, die vielleicht irgendwann in dunklen Zeiten, aber jedenfalls nicht mehr im 18. Jahrhundert Praxis waren: Das Jus primae Noctis, das Recht der ersten Nacht, ist das verschrienste dieser Privilegien. Verallgemeinert gesprochen, hält der adlige Verführer es für ein Recht, nach Lust und Laune mit niedriger geborenen Weibern zu verfahren.
Das zweite Feindbild dieser moralischen Revolution ist dabei seltsam unter die Räder gekommen: die adelige Frau. Denn letzten Endes ging es in der bürgerlichen Revolution auch um das Aufräumen mit einem Frauentypus, der sich nicht zur Ehefrau und Mutter reformieren ließ: dem der französischen adeligen Frau. Dem perversen, adeligen Lüstling, der mit allen Mitteln auf Sex aus ist, korrespondiert das Schreckbild einer nicht minder perversen Verführerin, welche die Männer nicht wirklich liebt, sondern nur ihrem Vergnügen dienstbar macht.
Dagegen steht nun das Bollwerk der bürgerlichen, unverführbaren Tugend auf. Für sie gehören in der neuen Rolle der Ehefrau und Mutter Sex und Ehe untrennbar zusammen. Der reformierte Ehemann ist das älteste ihrer Kinder. Adelige Weiblichkeit wird durch bürgerliche Mütterlichkeit aus dem Feld geschlagen, adelige Männlichkeit dagegen gründlich reformiert zum treuen Ehemann und sorgenden Vater.
Die tugendhafte, bürgerliche Frau
Pamela ist ein armes, aber tugendhaftes Hausmädchen, das ihr lüsterner, moralisch verkommener Herr mit allen erdenklichen Mitteln zum Beischlaf mit ihm zwingen will. Richardson brauchte mehrere Hundert umfassende Seiten Ausführungen, um die Tugendhaftigkeit seiner Pamela gegen alle Anfechtungen so überzeugend wie möglich darzustellen, dass sie über jeden Zweifel erhaben blieb. Dabei wurde ihr Körper unablässig von den prüfenden Augen der Leser auf Zeichen der Lust hin getestet und gerade in seiner sinnlichen Unberührbarkeit hypersexualisiert. Am Ende triumphiert die bürgerliche Tugend über den adeligen Perversen: Der Herr selbst bekehrt sich und heiratet statt standesgemäß eine Adelige, welche im Roman allesamt sittlich anrüchig und von französischer Galanterie infiziert sind, das tugendhafte, bürgerliche Dienstmädchen. Tugend führt zu spektakulärem gesellschaftlichen Aufstieg, und die Institution Ehe wird zum einzigen legitimen Ort von Sexualität. Durch die bürgerliche Tugend wird der adelige Mann von seiner perversen Lust geheilt und vor den adeligen, lustgetriebenen Frauen geschützt.
Heute, fast dreihundert Jahre später, scheinen wir im Fall Strauss-Kahn an ebendiesen Punkt zurückgeworfen.[4] Das öffentliche Interesse orientiert sich an ebendiesem bürgerlich-reformierten ideologischen Szenario: Hier der "perverse", von seiner Geilheit blind getriebene Lüstling - einer der reichsten und mächtigsten Männer der Welt -, und dort ein armes, zugewandertes Zimmermädchen - eine tugendhafte, zum Wohle ihrer Tochter schwer arbeitende alleinerziehende Mutter. Als sie allerdings den Tugendtest nicht besteht, fällt sie in der Presse auf die Rolle der Hure zurück.
Literatur
- Samuel Richardson[wp]: Pamela oder die belohnte Tugend[wp], 1740, Wiederauflage Penguin Classic 1980, ISBN 0-14-043140-3
- Karl Schmidt[wp]: Jus primae noctis. Eine geschichtliche Untersuchung., Herder 1881, Reproduktion 2010, ISBN 1-14415241-0
- Wilhelm Schmidt-Bleibtreu: Ius primae noctis im Widerstreit der Meinungen. Eine historische Untersuchung über das Herrenrecht der ersten Nacht., Röhrscheid 1988, ISBN 3-7928-0498-0
- Alain Boureau[wp]: Das Recht der Ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion., Patmos 1996, ISBN 3-538-07043-1, ISBN 3-491-96002-9
Einzelnachweise
- ↑ Alain Boureau: Das Recht der Ersten Nacht. Zur Geschichte einer Fiktion., Patmos 1996, ISBN 3-538-07043-1, ISBN 3-491-96002-9
- ↑ Wilhelm Schmidt-Bleibtreu: Ius primae noctis im Widerstreit der Meinungen. Eine historische Untersuchung über das Herrenrecht der ersten Nacht., Röhrscheid 1988, ISBN 3-7928-0498-0
- ↑ Ulli Kulke: Feudalismus: Als der Chef die Braut noch vergewaltigen durfte, Die Welt am 22. August 2011
- ↑ Barbara Vinken: Dominique Strauss-Kahn: Der neue Pamela-Feminismus, Die Zeit am 15. Juli 2011