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Religiöser Analphabetismus
Der Begriff religiöser Analphabetismus bezeichnet individuelle Defizite in der Bildung bezüglich Religionen.
Golgatha ist keine Zahnpasta, und Sodom und Gomorrha sind kein Ehepaar. Noah ist nicht bloß der Vorname von Boris Beckers Sohn und Hiob nicht allein der Titel eines Romans von Joseph Roth[wp]. Ostern ist nicht das Fest von Jesu Hochzeit und Pfingsten nicht das seiner Auferstehung.
Viele Bewohner des so genannten christlichen Abendlandes wären sich da allerdings nicht so sicher. "Don't know much about history", sangen Simon & Garfunkel[wp] 1978 in dem Lied, das die wunderbare Welt der Liebe beschwor und die Unkenntnis von Geschichte, Biologie, Algebra, ja jedes beliebigen Schulstoffs besang. Nur die Unkenntnis von Religion kam nicht vor. Doch diese spezielle Wissenslücke könnte man längst hinzufügen. [...] Musikalische, kunsthistorische und literarische Unbildung ist allenthalben verbreitet, doch die religiöse ist es noch viel mehr. [...] Wie lauten die Zehn Gebote? Kennt doch jeder! Weit gefehlt, die meisten kriegen gerade mal drei zusammen. Schön wäre, wenn wenigstens ein paar Grundlagen unserer Kultur noch gekannt würden. [...] Es gibt eine Menge Leute, die es nicht weiter schlimm finden, wenn wir keine Ahnung von der Bibel haben. Sie halten Religion für den entbehrlichen Ballast bürgerlichen Lebens. Doch die Bibel ist nun einmal die Grundlage unserer Kultur und Sprache. Luthers[wp] Übersetzung war das einigende (Sprach-)Band der Deutschen, so wie die King-James-Version für die Engländer. Wenn wir in Europa von "unserer Kultur" reden, fußt diese auf dem Boden der Bibel, auf ihren Geschichten, Gleichnissen und Psalmen. Unsere moralischen Dilemmata heute sind ja fast alle in der Bibel ausgebreitet: der ewige Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Versuchung und Erlösung, zwischen Erfahrung und Unschuld. Wer die Bibelkenntnis also unnütz nennt, verkennt, dass es dabei gar nicht unbedingt um den Glauben geht. Man muss die Schöpfungsgeschichte nicht glauben, aber die kreative Wucht der biblischen Erzählung bleibt unübertroffen. Die große abendländische Literatur, ob von William Blake[wp] oder John Milton[wp], ob von Thomas Mann[wp] oder Shakespeare[wp], der allein etwa 1300 Referenzen auf die Bibel in seinen Dramen versteckte, ist ohne wenigstens rudimentäre Kenntnis der hebräischen wie der christlichen Bibel kaum zu verstehen. [...] Freilich greift religiöse Unkenntnis nicht nur im säkularisierten Westeuropa um sich, auch im weit religiöseren Amerika ist es mit der Kenntnis der Heiligen Schrift nicht mehr weit her. [...] |
– Christine Brinck[1] |
Das sind drei Schlaglichter auf eine Öffentlichkeit, die sich durch Präsenz und Praxis einer Glaubensgemeinschaft herausgefordert fühlt, weil sie um ihren Identitätskern fürchtet. Das Empfindungsspektrum reicht von Irritation bis Ablehnung. Kritisiert wird die angeblich aggressive Natur der Muslime, ihre Unfähigkeit, Kritik zu ertragen, ihr Hang zum Beleidigtsein, ihr Fanatismus, ihr Antisemitismus, die Unterdrückung der Frauen, die Geißelung der Homosexualität, die Intoleranz. All diese Topoi sind vom Rand in die Mitte der Gesellschaft gewandert. Wenn gegen den Islam gewettert wird, weiß man oft nicht mehr, wer spricht. Ist es Papst Benedikt XVI.[wp] in seiner Regensburger Vorlesung? Alice Schwarzer? Geert Wilders[wp]? Der amerikanische reaktionär-evangelikale Prediger Franklin Graham[wp] ("Der Islam ist böse")? Ein Redner der "Pegida"?
Interessant aber ist, dass die Heftigkeit der Auseinandersetzung mit dem Islam in dem Maße zunimmt, wie die Bindung an den eigenen Glauben abnimmt oder abgenommen hat. Ob Kopftuch oder Beschneidung, Moscheebauten oder Gebetsräume, gemeinsamer Schwimmunterricht oder das Schächten: Bei all diesen Themen sind die Töne zunehmend gereizt bis schrill, laut und unversöhnlich. Dabei sind es nicht etwa fromme, praktizierende Christen, die die Debatte vorantreiben, sondern Vertreter der säkularisierten, individualisierten Mehrheit. Der Entchristlichungsprozess des Landes korrespondiert mit einem schwindenden Glaubensverständnis. Die Zurückweisung des Islam speist sich auch aus antireligiöser Motivation. Nicht nur der spezifische Glaube der Muslime ist in den Fokus gerückt, sondern religiöser Glaube an sich. Immer weniger Deutsche sind gläubig. Die Vereinigung hat diesen Prozess beschleunigt. Immer weniger Deutsche sind gläubig. Die Vereinigung hat diesen Prozess beschleunigt. Während noch rund 70 Prozent der Westdeutschen einer christlichen Konfessionsgemeinschaft angehören, sind es nur 20 Prozent der Ostdeutschen. In einer Großstadt wie Berlin sind bereits 60 Prozent der Menschen konfessionslos. Der große internationale Erhebungsverbund "International Social Survey Program" (ISSP) befragt weltweit Menschen über das Ausmaß ihrer Religiosität. Demnach sind die neuen Bundesländer die mit Abstand gottesfernste Region überhaupt. "Ich glaube nicht an Gott", sagen in Ostdeutschland 52,1 Prozent der Befragten, in Westdeutschland 10,3 Prozent, in Russland 6,8, in den USA 3,0 und auf den Philippinen 0,7 Prozent. Als Atheisten bezeichnen sich 46,1 Prozent der Ostdeutschen, bei steigender Tendenz. Diagnostiziert wird dort ein stabiles areligiöses Milieu. Doch nicht allein die Zahl der Konfessionsmitglieder ist in ganz Deutschland seit Jahren rückläufig, sondern auch die Teilnahme an Gottesdiensten und die religiöse Praxis in Familien, Stichwort: Abend- und Tischgebet. Nur noch eine Minderheit traut den Kirchen eine Orientierungshilfe bei ethischen Fragen und der Bewertung aktueller sozialer Probleme zu. Die Folge dieser Entfremdung ist einerseits ein religiöser Analphabetismus, dem das Verständnis für Frömmigkeit, Glauben, Rituale und Mission fehlt, andererseits religiöse Antipathie, die das Unverstandene im Namen des Rationalismus[wp] oder Humanismus ablehnt. [...] In der Auseinandersetzung mit dem Islam trifft nun religiöser Analphabetismus auf religiöse Vitalität In der Auseinandersetzung mit dem Islam trifft nun religiöser Analphabetismus auf religiöse Vitalität. Kirchen müssen aufgrund mangelnder Nachfrage schließen, Moscheen gibt es immer mehr. Kollektive Frömmigkeitsbekundungen, verbunden mit einem Glauben, der das öffentliche wie private Leben durchdringt, werden als Gegenentwurf zur eigenen entchristlichten, säkularen Prägung wahrgenommen. Das verstört in dem Maße, wie die eigene Identität von spiritueller Haltlosigkeit gekennzeichnet wird. Eine Rückkehr zu ihren christlichen Wurzeln scheint den Menschen vielerorts verwehrt. Dann aber, so will es das Gerechtigkeitsgefühl, sollen die Muslime auch nicht haben dürfen, was man selber nicht mehr hat - einen festen, tiefen Glauben. |
– Malte Lehming[2] |
Religionsunterricht[wp] als Waffe im Kampf gegen Fanatismus: Der Tübinger Theologe Ismail Yavuzcan hält den Ausbau von islamischen Religionsunterricht für einen wichtigen Baustein, um dem Abgleiten Jugendlicher in den Extremismus vorzubeugen. "Der religiöse Analphabetismus ist Fakt, denn etwa 60 Prozent der jungen Muslime erhalten weder in der Schule noch in der Moschee religiöse Unterweisung", sagte der Experte vom Lehrstuhl Religionspädagogik des Zentrums für islamische Theologie der Deutschen Presse-Agentur. Ministerpräsident Winfried Kretschmann[wp] (Grüne) und Kultusminister Andreas Stoch[wp] (SPD) hatten mehr Tempo beim Ausbau des Islamunterrichts angekündigt, um "religiösem Analphabetismus" entgegenzuwirken. Damit solle verhindert werden, dass junge Menschen von Islamisten in die Irre geleitet würden. |
– Die Welt[3] |
Religiöser Analphabetismus, was für ein monströser Kampfbegriff auf missionierendem Kriegspfad? War vor der Erfindung des Alphabets das Religiöse nicht längst da? "Religiöser Analphabetismus", erinnert das nicht an den Kampfbegriff "ideologischer Analphabetismus" im Kalten Krieg der Blöcke?, um die horrenden Ausgaben gegenseitig atomarer und konventioneller Aufrüstung in so genannten Verteidigungsgemeinschaften, NATO im Westen, Warschauer Vertrag im Osten, zu Lasten der Zivilgesellschaften zu rechtfertigen? Navid Kermani[wp], Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2015, prägt in seinen Schriften, Interviews, Reden in schöner Sprache in fulminantem Bangen den Begiff vom
um auf die Gefahr zu verweisen, dass durch diesen mehr und mehr Menschen im christlichen Abendland der Menschheitssegen, der in europäischer Kultur, Literatur, Musik, erwachsen aus religiösem Raum, verborgen liegt, wie ein Buch mit "Sieben Siegeln" verschlossen bleibt. Zuletzt hat sich der deutsche Poet, Dramaturg und Schriftsteller Botho Strauß[wp] in seinem als Glosse verfaßten Spiegel-Essay "Der letzte Deutsche" dem kulturellen Bangen Navid Kermanis als "Rasender Bote" im anschwellenden Ungemachgesangs zugesellt. Dabei erinnert dieses Bangen mit gleichzeitigem Verlangen nach moralisch-militärisch-religiöser Aufrüstung mit solchen Kampfbegriffen wie "religiöser Analphabetismus" historisch, damals Bangen um Unterlegenheit durch "ideologischen Analphabetismus" im Westen gegenüber dem Osten, an den Beginn des Kalten Krieges[wp] mit der Berlin Blockade 1948, als die UdSSR, ideologisch hochgerüstet, anders als die USA, als Siegermacht im 1945 niedergeworfenen Deutschen Reich in ihrem Besatzungsteil militärisch in Kriegesstärke verharrte, nicht bereit war, Truppen in Europa abzubauen, geschweige denn zurückzuziehen.
Auszug aus der Friedenspreisrede Navid Kermanis in der Frankfurter Paulskirche am 19. Oktober 2015:
[...] | ||||
– Joachim Petrick[6] |
Zitat: | «Religiöser Analphabetismus führt dazu, dass man die heutige Welt nicht richtig begreifen kann. Der Wissensmangel kann Intoleranz bewirken: Man versteht den Anderen nicht und fühlt sich deshalb von seinen Riten bedroht.» - Marine Quenin[7] |
Zitat: | «Während vor 40 Jahren Nichtchristen als Exoten galten, stellen sie heute in Hamburg die Mehrheit. Insgesamt ist der Anteil beider Konfessionen im Land auf jeweils unter 30 Prozent abgesackt.
Natürlich hat das Folgen - so beschleunigt sich eine kulturelle Erosion. Man kann Johann Sebastian Bach[wp] zwar hören, aber ohne christliche Grundkenntnisse nicht mehr verstehen; man kann Friedrich Hölderlin[wp] oder Joseph von Eichendorff[wp] weiter lesen, aber kaum durchdringen. Und auch die wunderbare Geschichte der Geburt Jesu[wp] im Lukas-Evangelium ist ohne die Auferstehung Christi[wp] - mit Verlaub - nur märchenhafter Kitsch.» - Matthias Iken[8] |
Zitat: | «Nicht [nur] die Zahl der Konfessionsmitglieder ist in ganz Deutschland seit Jahren rückläufig, sondern auch die Teilnahme an Gottesdiensten und die religiöse Praxis in Familien, Stichwort: Abend- und Tischgebet. Nur noch eine Minderheit traut den Kirchen eine Orientierungshilfe bei ethischen Fragen und der Bewertung aktueller sozialer Probleme zu. Die Folge dieser Entfremdung ist einerseits ein religiöser Analphabetismus, dem das Verständnis für Frömmigkeit, Glauben, Rituale und Mission fehlt, andererseits religiöse Antipathie, die das Unverstandene im Namen des Rationalismus oder Humanismus ablehnt. [...]
In der Auseinandersetzung mit dem Islam trifft nun religiöser Analphabetismus auf religiöse Vitalität. Kirchen müssen aufgrund mangelnder Nachfrage schließen, Moscheen[wp] gibt es immer mehr. Kollektive Frömmigkeitsbekundungen, verbunden mit einem Glauben, der das öffentliche wie private Leben durchdringt, werden als Gegenentwurf zur eigenen entchristlichten, säkularen Prägung wahrgenommen. Das verstört in dem Maße, wie die eigene Identität von spiritueller Haltlosigkeit gekennzeichnet wird. [...]» - Malte Lehming[9] |
Einzelnachweise
- ↑ Christine Brinck: Religion: Wo wohnt Gott?, Die Zeit am 23. August 2012 (Und wozu müssen wir das wissen? Über den religiösen Analphabetismus der westlichen Gesellschaften. Eine Polemik)
- ↑ Malte Lehming: Muslime in Deutschland: Fremde Frommheit, Tagesspiegel am 23. August 2012 (In der Auseinandersetzung mit dem Islam trifft religiöser Analphabetismus auf religiöse Vitalität)
- ↑ Islamischer Theologe: "Religiöser Analphabetismus" ist Fakt, Die Welt am 14. Januar 2015
- ↑ Stefan Gmünder: Kermani: "Problematisch ist der religiöse Analphabetismus", Der Standard am 4. März 2014
- ↑ Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2015[ext] - S. 11-13
- ↑ Joachim Petrick: Paul Tillich vs Navid Kermani?, Der Freitag am 22. Oktober 2015
- ↑ Bettina Kaps: Frankreich: Verein klärt Schüler über Weltreligionen auf, Deutschlandfunk am 11. Februar 2014
- ↑ Matthias Iken: Hamburger Kritiken: Der verlorene Glaube, Hamburger Abendblatt am 24. Dezember 2016
- ↑ Malte Lehming: Muslime in Deutschland: Fremde Frommheit, Tagesspiegel am 10. Januar 2015